06. 10. 2024

Login Form

Trotz Balkan-Krieg bleiben auch schöne Erinnerungen

Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Im gleichen Jahr kam der Kroate Ivica Petrusic als 14-Jähriger in die Schweiz. Der Dreifachbürger engagiert sich in der Schweizer Politik und pflegt enge Kontakte zur früheren Heimat.

Artikel erschienen bei swissinfo.ch

Wie viele Kroaten kam auch Ivica Petrusics Vater in den 1970er-Jahren als Saisonnier in die Schweiz und arbeitete hier als Maurer.

Ab Ende der 1980er-Jahre ging es in Jugoslawien wirtschaftlich bergab, und auch politisch wurde es zunehmend schwieriger. "Normalsterbliche merkten noch nicht, dass es Krieg geben wird. Aber mit dem Austritt von Kroatien und Slowenien aus der kommunistischen Partei Ende der 80er-Jahre begann es zu rumoren", sagt Ivica Petrusic.
Die Familie zog 1991 - kurz vor Kriegsausbruch - zum Vater in die Schweiz, weil da die Perspektiven für die drei Kinder im Teenager-Alter günstiger schienen.
"Als der Krieg in Kroatien losging, zogen Verwandte von uns vorübergehend nach Bosnien, wo wir auch Familie haben. Als der Krieg auch in Bosnien ausbrach, flohen Familienangehörige nach Kroatien."

Krieg aus Distanz

Die kriegerischen Ereignisse erlebte Petrusic aus der Ferne mit. "Intensiv und emotional", wie er sagt, denn es gab auch Tote unter Verwandten und Freunden.
Vage kann er sich daran erinnern, dass in der Wohnung in Buchs bei Aarau "immer viele Leute waren und viel geredet wurde. Man organisierte Hilfskonvois für den kroatischen Teil in Bosnien, der eineinhalb Jahre lang eingekesselt war".

Seine Kindheit hatte Petrusic in Zentralbosnien verbracht, später lebte die Familie in der Nähe der kroatischen Stadt Split. Die erste Zeit in der Schweiz war für ihn schwierig, nicht in erster Linie der Sprache wegen, sondern wegen des Kulturbruchs.
"Ich kam von einem sozialistischen Schulmodell, wo alle von der 1. bis zur 8. Klasse zusammen sind. In der Schweiz war plötzlich gefragt, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, das war neu - und ich überfordert." Oft habe er sich gewünscht, zurückzugehen. Er habe in Bosnien und Kroatien eine gute Kindheit gehabt.

Schweiz als neue Heimat

Als dann auf dem Balkan der Krieg tobte, war eine mögliche Rückkehr als Option vom Tisch. "Ich musste einen Schnitt machen und mich auf die Schweiz einlassen."
So kam es, dass er sich mit 15, 16 Jahren mit der Tatsache anzufreunden begann, dass die Schweiz seine neue Heimat sei. Er lernte Hochbauzeichner, später Sozialarbeiter. Seit 10 Jahren ist Petrusic in der Jugendarbeit tätig.

Das Thema Identitätsfindung ist für den kroatisch-bosnisch-schweizerischen Dreifachbürger noch immer ein Thema. "Wo ich hingehöre, ist kein bewusster Entscheid, es ist ein Prozess, den man nie abschliesst, was in der heutigen globalisierten Welt und pluralistischen Gesellschaft auch ratsam ist."

Wichtig geblieben ist dem 34-Jährigen seine kroatische Kultur, "die ich gelebt habe und in mir verankert ist". Zusammen mit drei kroatischen Freunden gründete er einen Basketballverein, mit seinem Vater und Bruder einen kroatisch-bosnischen Verein, er organisierte unter dem Begriff 'B-Ekspress' Konzertreihen mit Balkanmusik. Zudem singt er in der "Extrem Bosnian Blues Band".

Zurück zu den Gemeinsamkeiten

Ivica Petrusic will aber nicht in der "Kultur und den Bildern der Vergangenheit hängenbleiben", sondern er engagiert sich in der Schweiz auch politisch und kandidiert im Herbst für den Nationalrat. "Man soll dort partizipieren, wo man den Lebensmittelpunkt hat, unabhängig von den Wurzeln", sagt er.
Nach dem Zerfall Jugoslawiens gab es in der Schweiz unter der Diaspora einen regelrechten Boom von Ethno-Clubs: die Serben, Bosniaken, Kroaten, Montenegriner hatten ihre eigenen Cafés und Discos. "Diese Abgrenzung, diese Distanz war nach dem Krieg offenbar nötig", meint Petrusic.

Heute sei das anders. "Die Jugend lebt die gemeinsame Kultur wieder intensiver, selbstverständlicher. Wir reden untereinander von 'Jugos', was nichts mit Nostalgie oder Tito zu tun hat. Wir übernehmen damit lediglich die Terminologie der Schweizer." Es gehe, so Petrusic, um eine neue Identität.

Auch unter den früheren jugoslawischen Teilrepubliken begegne man sich nach einer Zeit der Distanz wieder auf einer anderen Ebene. So wird in Serbien für Ferien an der kroatischen Küste geworben, die wirtschaftlichen Beziehungen wachsen, es wird über eine gemeinsame Fussball-Liga diskutiert, eine Basketball-Liga gibt es schon.
"Man wagt wieder eine Annäherung. Wir sind Nachbarn und haben eine gemeinsame Geschichte." Trotz des Krieges seien viele schöne Erinnerungen geblieben, die jetzt langsam wieder hochkämen, sagt der Exil-Kroate.

Noch braucht es Zeit

Dass die Kriegsvergangenheit aber noch immer dunkle Schatten wirft und längst nicht aufgearbeitet ist, zeigt das Beispiel von Ex-General Ante Gotovina.
Als er im Frühling wegen Kriegsverbrechen an Serben zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, ging ein Schrei der Empörung durch die Nation. Denn Gotovina gilt in Kroatien noch immer bei vielen Leuten als Nationalheld.
"Kroatien lebte seit dem Krieg lange Zeit in einer dumpfen Zwischenwelt. Vieles von früher war übrig geblieben. Man war stolz auf die Unabhängigkeit, die Befreiung, die eigene Identität, die man erlangt hatte."

Kroatien müsse nun verarbeiten, dass in diesem Demokratisierungs-Prozess nicht alles sauber gelaufen sei, sagt Petrusic. Für einen Kroaten aus dem Hinterland Dalmatiens, der im Krieg gekämpft habe, sei es schwierig, zu verstehen, dass ein Kriegsheld plötzlich zum Kriegsverbrecher geworden sei. Seit 2, 3 Jahren werde über diese Themen, die lange Zeit Tabu waren, nun offen und kontrovers diskutiert, auch am Fernsehen.
Und dass just zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit die Europäische Union grünes Licht gegeben habe für einen Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union, sei eine "schöne Symbolik und ein politisch guter Schachzug", so Petrusic.

Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch
Zürich


Link zum Originalartikel bei swissinfo.ch